Das Sirius-Rätsel

Sirius und die Dogon

Der französische Ethnologe Marcel Griaule studierte ab 1931 zwei Jahrzehnte lang die Volksgruppe der Dogon im westafrikanischen Mali. Die umfangreichen Schöpfungsmythen der Dogon, die Griaule hauptsächlich in Gesprächen mit vier hochrangigen Stammesangehörigen sammelte, enthalten unter anderem Angaben über einen merkwürdigen Begleiter von Sirius:

Ein von den Dogon gezeichnetes Diagramm, das angeblich das Doppelsternsystem Sirius darstellt
  • der Stern Sirius (sigu tolo) wird vom kleineren Begleiter po tolo umkreist. Po tolo hat seinen Namen von po, dem kleinsten den Dogon bekannten Getreidekorn (Digitaria exilis).
  • Po tolo bewegt sich auf einer ovalen Bahn um Sirius; Sirius steht nicht im Zentrum dieser Bahn, sondern exzentrisch.
  • Po tolo braucht 50 Jahre, um die Bahn einmal zu durchlaufen und dreht sich einmal im Jahr um sich selbst.
  • Wenn po tolo nahe bei Sirius steht, wird Sirius heller. Wenn der Abstand am größten ist, flackert Sirius und kann als mehrere Sterne erscheinen.
  • Po tolo ist der kleinste Stern und überhaupt das kleinste für die Dogon denkbare Ding. Er ist aber gleichzeitig so schwer, dass alle Menschen nicht ausreichen würden, ihn hochzuheben.
  • Ein drittes Mitglied des Siriussystems ist der Stern emme ya tolo (benannt nach einer Sorghumhirse), der etwas größer als po tolo aber nur ein Viertel so schwer ist. Er umkreist Sirius auf einer größeren Bahn und ebenfalls einmal in 50 Jahren.

Die bemerkenswerte Ähnlichkeit dieser Beschreibungen mit Sirius B und einem eventuellen Sirius C ist um so erstaunlicher, als nichts davon mit bloßem Auge erkennbar ist. Zahlreiche unterschiedliche Spekulationen versuchen die Herkunft dieser Kenntnisse zu erklären.[60] In der Populärliteratur finden sich zwei Hauptströmungen: eine hauptsächlich in afrozentrischer Literatur vertretene Ansicht sieht die Dogon als Überbleibsel einer einstigen hochentwickelten, wissenschaftlich geprägten schwarzafrikanischen Zivilisation. R. Temple andererseits vertrat in seinem Buch The Sirius Mystery (dt.: Das Sirius-Rätsel) die Vermutung, außerirdische Besucher aus dem Sirius-System hätten vor etwa 5000 Jahren den Anstoß für den Aufstieg der ägyptischen und der sumerischen Zivilisation gegeben.[61] Die Dogon seien Nachfahren eines nordafrikanischen, später nach Westafrika ausgewanderten Volksstammes, der die von den Außerirdischen vermittelten Kenntnisse über das Sirius-System bewahrt habe.

Die in wissenschaftlichen Kreisen bevorzugte Erklärung geht von der Kontaminierung der Dogon-Mythologie mit modernen astronomischen Erkenntnissen aus. Die anthropologische Variante nimmt an, dass die Kontamination (wenn auch nicht absichtlich) durch Griaule selbst geschehen sei. Der niederländische Anthropologe Walter van Beek arbeitete selbst mit den Dogon und versuchte Teile des Materials von Griaule zu verifizieren. Er konnte jedoch große Teile der von Griaule wiedergegebenen Mythen nicht bestätigen, unter anderem Sirius als Doppelsternsystem. Van Beek vertritt die Ansicht, dass die von Griaule publizierten Mythen nicht einfach Wiedergaben von Erzählungen seiner Gewährsleute seien, sondern in einem komplexen Zusammenspiel zwischen Griaule, seinen Informanten und den Übersetzern zustande gekommen seien. Ein Teil von ihnen sei das Ergebnis von Missverständnissen sowie Überinterpretation durch Griaule. Laut Griaules Tochter, Dr. Geneviève Calame-Griaule, hätten allerdings die astronomischen Kenntnisse ihres Vaters nicht ausgereicht, um selbständig astronomische Sachverhalte in die Erzählungen der Dogon hinein zu interpretieren.

Eine spekulative Erklärung bezieht sich auf angenommene Kontakte der Dogon mit europäischen Besuchern. Sie weist darauf hin, dass die Dogon-Erzählungen den astronomischen Kenntnisstand ab etwa 1926 widerspiegeln (während Griaule erst ab 1931 bei den Dogon zu arbeiten begann): die Umlaufperiode, der elliptische Orbit und die große Masse von Sirius B waren bereits im 19. Jahrhundert bekannt, sein geringer Durchmesser ab etwa 1910, ein möglicher dritter Begleiter wurde in den 1920er Jahren vermutet, die hohe Dichte von Sirius B wurde 1925 nachgewiesen. Die Beobachtung der gravitativen Rotverschiebung an Sirius B ging als aufsehenerregende Bestätigung der Allgemeinen Relativitätstheorie durch die populäre Presse. Als Quellen kommen beispielsweise Missionare in Betracht, worauf möglicherweise auch biblische und christliche Motive in der Dogon-Mythologie hinweisen. Missionarische Aktivitäten bei den Dogon fanden ab 1931 statt, allerdings sind bisher keine Missionare nachweisbar, die konkret als Quelle in Frage kämen.[62]