Spiritismus

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Spiritismus (von lat. spiritus: „Geist“) oder Spiritualismus bezeichnet moderne Formen der Beschwörung von Geistern, insbesondere von Geistern Verstorbener (Totenbeschwörung), die sich mit Hilfe eines Mediums sinnlich wahrnehmbar mitteilen sollen. Spiritualismus bezeichnet darüber hinaus spirituelle Lehren und Glaubenssysteme jeglicher Art. Spiritismus ist des Weiteren als Bezeichnung für die Lehre des Spiritisten Allan Kardec gebräuchlich (siehe dort).

Inhaltsverzeichnis

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Geschichte

Die Fox-Schwestern 1852

Geisterbeschwörungen sind eine sehr alte und in vielen Religionen verbreitete Praxis. Die Begründung des modernen Spiritismus wird gewöhnlich den Schwestern Margaret und Kate Fox und ihren Eltern zugeschrieben, die 1848 behaupteten, in einem Haus in Hydesville im US-Staat New York, das sie unlängst neu bezogen hatten, seltsame Klopfgeräusche zu hören, welche sie dem Geist eines ermordeten und im Keller begrabenen Hausierers zuschrieben. Die Familie übernahm die schon lange etablierte Technik der „Kommunikation“ mit derartigen „Klopfgeistern“, bei der jedem Buchstaben im Alphabet eine bestimmte Anzahl von Klopfzeichen zugeordnet wird, und suchte mit großem Erfolg die Öffentlichkeit. Bei der ersten öffentlichen Demonstration der „Fähigkeiten“ der Mädchen in Rochester, New York, im November 1848 waren 400 zahlende Gäste zugegen. Bald traten auch andernorts solche Medien auf, hauptsächlich im evangelikal geprägten Nordosten der USA, und auf dem Höhepunkt dieser Welle um 1855 sollen eine bis mehrere Millionen US-Amerikaner von der Realität der angeblichen Geisterbeschwörungen überzeugt gewesen sein. Dabei verbreiteten sich schnell auch neue Methoden der „Kommunikation“ mit den Geistern wie das „automatische Schreiben“, bei der der Geist vermeintlich die Hand des Mediums führt, oder das Aussprechen der Gedanken der Geister durch in Trance versetzte Medien.[1]

Das Neue, das den modernen Spiritismus gegenüber ähnlichen älteren Praktiken auszeichnete, war das große Interesse, welches ihm eine breite Öffentlichkeit entgegenbrachte. Antoine Faivre weist darauf hin, dass der Spiritismus etwa zugleich mit der klassischen fantastischen Literatur und mit der sozialen Utopie des Marxismus auftrat und dass unmittelbar vor dem großen Medienrummel um die Fox-Schwestern das Buch The Principles of Revelation von Andrew Jackson Davis (1847), ein vielgelesenes Standardwerk des Mesmerismus, in den USA erschienen war. Der Mesmerismus versuchte ebenfalls, wenn auch auf etwas andere Art („Magnetisierung“), mit Hilfe von Medien Informationen aus einer übersinnlichen Welt zu erhalten. Weitere wichtige Aspekte der Vorgeschichte waren die mystische Lehre Emanuel Swedenborgs und die im französischen Illuminismus des späten 18. Jahrhunderts verbreiteten „Kommunikationen“ mit höheren geistigen Wesen. Im deutschen Sprachraum hatte Justinus Kerner 1826 beträchtliches Aufsehen erregt, indem er die später so genannte Seherin von Prevorst „magnetisierte“ und so dazu brachte, mit den Geistern Verstorbener zu kommunizieren, „Klopfgeister“-Erscheinungen hervorzurufen und von höheren geistigen Wesen empfangene Lehren zu verkünden. Schon 1794 hatte auch Johann Caspar Lavater von spiritistischen Sitzungen berichtet.[2]

Allan Kardec

Die von den Fox-Schwestern ausgelöste Spiritismus-Welle verbreitete sich schnell auch in Europa, wo der Franzose Allan Kardec (1804–1869), der erste bedeutende Theoretiker dieser Bewegung, eine auf dem Spiritismus und auf dem Glauben an die Reinkarnation basierende Religion stiftete.[3] Diese Ausbreitung des Spiritismus fiel, wie der Historiker James Webb konstatiert, zeitlich zusammen mit einer „Rückkehr des Wunders ins religiöse Leben Europas“, die sich in zahlreichen Berichten etwa von Marienerscheinungen, Wunderheilungen oder Levitationen zeigte.[4]

In Deutschland fasste die spiritistische Bewegung relativ langsam Fuß und entwickelte sich nicht zu einer Massenbewegung, stieß andererseits aber stärker als in anderen Ländern auf Interesse in intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen, so bei den Physikern Karl Friedrich Zöllner und Gustav Theodor Fechner.[5] In den späten 1850er Jahren stieß der deutsche Botaniker und Naturphilosoph Christian Gottfried Nees von Esenbeck, der sich schon länger mit dem „Animalischen Magnetismus“ beschäftigt hatte, auf die spiritistischen Schriften von Andrew Jackson Davis und veranlasste deren Übersetzung ins Deutsche durch den katholischen Theologen Gregor Konstantin Wittig.[6] Daraus ging die Bibliothek des Spiritualismus für Deutschland hervor, die Wittig ab 1868 herausgab und die den Spiritismus einer breiteren deutschsprachigen Leserschaft bekannt machte. 1873 gründete Wittig einen spiritistischen Verein in Leipzig, und ab 1874 gab er zusammen mit dem russischen Spiritisten Alexander Aksakow und dem Verleger Oswald Mutze die Zeitschrift Psychische Studien heraus, die lange Zeit die bedeutendste okkulte Zeitschrift Deutschlands war.

Der Leipziger Astrophysiker Karl Friedrich Zöllner veranstaltete 1877 einige Séancen mit dem amerikanischen Medium Henry Slade, an denen auch Gustav Theodor Fechner und einige weitere Wissenschaftler teilnahmen.[7] Slade versetzte scheinbar telekinetisch Gegenstände in Bewegung und ließ schriftliche Mitteilungen auf Schiefertafeln erscheinen. Zöllner betrachtete dies als empirische Bestätigungen seiner schon länger gehegten Annahme einer vierten Dimension des Raumes und publizierte 1878/79 ausführliche Berichte über diese Experimente, an welche er die Hypothese anschloss, dass geistige Wesen aus der vierten Dimension die beobachteten Phänomene hervorgerufen hätten. Damit hoffte er, eine „Transzendentale Physik“ zu begründen, und löste, nachdem 1880 auch eine englische Übersetzung seiner diesbezüglichen Publikationen erschienen war, eine internationale Debatte aus.

Wilhelm Wundt 1902

In der Presse und in wissenschaftlichen Kreisen stieß Zöllner überwiegend auf teils heftige Kritik.[8] Man warf ihm vor, seine Autorität als renommierter Wissenschaftler zu missbrauchen, um den spiritistischen Aberglauben salonfähig zu machen, und bezeichnete ihn gar als geisteskrank. Ein prominenter Kritiker war der Psychologe Wilhelm Wundt, der einer der Séancen beigewohnt hatte und Zweifel an der Echtheit der von Slade produzierten Phänomene äußerte. (Tatsächlich war Slade schon 1876 in Großbritannien wegen Betrugs verurteilt worden und hatte sich der Strafe durch Flucht ins Ausland entzogen.[9]) Wundt kritisierte Zöllners Leichtgläubigkeit und bezeichnete den Glauben, dass Séancen Beweise für ein Leben nach dem Tod liefern könnten, als Rückfall in die Barbarei.

Eduard von Hartmann um 1875

Ab den frühen 1880er Jahren entwickelten Wittig und Aksakow eine neue, als „animistisch“ bezeichnete Art, den Spiritismus zu betrachten.[10] Während die bei Séancen auftretenden Phänomene traditionell als Äußerungen von Verstorbenen interpretiert wurden, gingen die Animisten davon aus, dass die tatsächlich zugrundeliegenden Faktoren unbekannt und einer psychologischen Erforschung zugänglich seien. Sie fanden einen renommierten Unterstützer in dem Philosophen Eduard von Hartmann, der als Autor einer Philosophie des Unbewußten (1869) bekannt war und sich 1885 in seiner Schrift Der Spiritismus für eine wissenschaftliche Untersuchung des Spiritismus aussprach.[11] Obwohl er Wundts Kritik an den Gepflogenheiten in spiritistischen Kreisen weitgehend teilte, erhoffte Hartmann sich von ernsthaften Untersuchungen Einblicke in das Wirken des Unbewussten, und außerdem könne man auf diesem Gebiet den Hang der Menschen zum Aberglauben und zum Wunderglauben studieren. Dieser neuen Richtung, aus der die Parapsychologie hervorging, stand der traditionelle Spiritismus gegenüber, dessen in Deutschland damals führende Vertreter Wilhelm Besser und Bernhard Cyriax die Zeitschriften Sprechsaal und [Neue] Spiritualistische Blätter herausgaben und der in vielen Vereinen organisiert war.[10]

Der Konflikt zwischen diesen beiden Richtungen spitzte sich zu, als Medien auftauchten, die nicht nur Klopfgeräusche und mündliche und schriftliche Mitteilungen hervorriefen, sondern außerdem Gegenstände scheinbar aus dem Nichts „materialisierten“ und damit großes Aufsehen erregten. Diese Materialisierungen lösten besonders heftige kritische Reaktionen in Kreisen aus, die sich der wissenschaftlichen Untersuchung des Mediumismus auf der psychologischen Ebene („psychische“ Forschung) widmeten.[12] Es kam zu Anklagen und Verurteilungen wegen Betrugs, wobei besonders der Fall Anna Rothe (verurteilt 1903) landesweit ein erhebliches Echo in der Presse fand, da Rothe zuvor über etliche Jahre in vielen deutschen Städten sowie in Wien, Zürich und Paris aufgetreten war und sich dabei eine begeisterte Anhängerschaft erworben hatte.[13]

Spiritismus als Religion

Als Religion ist der Spiritismus durch eine ausgeprägte szientistische Haltung und durch eine scharfe Ablehnung des traditionellen Christentums charakterisiert. Grundlegend ist die Überzeugung, dass die menschliche Seele nach dem Tod weiter existiere und dass es mit Hilfe von Medien möglich sei, mit den Seelen Verstorbener zu kommunizieren. Die Verstorbenen unterscheiden sich demnach nur wenig von ihrer früheren irdischen Existenz, behalten ihre Eigenheiten, und auch die „andere Welt“, in der sie leben, ähnelt dem Diesseits, ist allerdings in mancherlei Hinsicht „besser“. Damit verbunden war ursprünglich die Überzeugung, dass die Existenz der Seelen oder Geister mittels wissenschaftlicher Experimente nachgewiesen werden könne. Wilhelm Wundt bezeichnete den Spiritismus daher als eine Form des Materialismus, die sich zwar „spirituell“ nenne und eine Alternative zum herkömmlichen Materialismus sein wolle, aber das Spirituelle materiell vorstelle. Ähnlich ambivalent ist das Verhältnis zum Christentum, da Spiritisten sich vielfach selbst als Christen bezeichnen, aber das traditionelle Christentum entschieden ablehnen.[14]

Die Anhängerschaft des Spiritismus wird weltweit auf über 100 Millionen geschätzt.[15] Am größten ist sie wohl in Brasilien, wo der Kardecismus, teils in Verbindung mit afro-brasilianischen Religionen wie Umbanda und Candomblé, sehr populär ist.[16]