Das Orakel von Delphi


Zu allen Zeiten hatten die Menschen den Wunsch, in die Zukunft zu sehen. In der griechischen Antike beantwortete die Seherin Pythia im Orakel von Delphi die Fragen von Königen, Feldherren und Philosophen. Die weisesten Männer ihrer Zeit kamen an diesen Ort, den sie den „Nabel der Welt“ nannten und der in einer einzigartigen Landschaft gelegen ist. Das Heiligtum befindet sich in 550 Metern Höhe über dem von uralten Ölbäumen bewachsenen Plistos-Tal in Mittelgriechenland.

Apollons Heiligtum
Ursprünglich soll das Orakel von Delphi eine Wirkungsstätte der Erdgöttin Gaia gewesen sein. Mit den um 1.000 v. Chr. eingewanderten Doren gelangte jedoch auch der Hirtengott Apollon dorthin. Er löste mit seinen Symbolen der Kraft, des Lichts und der Weisheit – die männlichen Prinzipien – das herrschende Matriarchat ab. Es heißt, Apollon, der Gott der Weissagung, habe Pythia stets persönlich informiert, so dass sie seinen Rat an die Besucher des Orakels weitergeben konnte. Leider wurden ihre Ratschläge von den wissbegierigen Kunden nicht immer richtig interpretiert.

Die Falle des Königs Krösus
Der griechische Historiker Herodot berichtet von Krösus, dem mächtigen König der Lyder, der zwischen 560 und 546 v. Chr. sämtliche bekannten Orakel auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen ließ und sich schließlich für Delphi entschied. Es ging um die Frage, ob er gegen das mächtige Reich der Perser zu Felde ziehen soll. Die Antwort des Orakels wurde für ihn zur Falle: „Wenn du den Halys (den heutigen türkischen Fluß Kizilirmak) überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören“. Krösus ahnte nicht, dass Pythia damit sein eigenes Reich gemeint hatte – er wurde vom Perserkönig Kyros II. besiegt.

Die Pythia als Institution
Pythia, die zum Symbol für Delphi wurde, war nicht eine bestimmte Frau, sondern vielmehr eine ganze Institution. Bei großem Andrang weissagten mehrere Pythien gleichzeitig in Wechselschichten. Ihre Aufgabe soll äußerst anstrengend gewesen sein. Das Orakel konnte nur am siebten Tag eines jeden Monats befragt werden. In den Wintermonaten legte man eine Pause ein. Der Philosoph Plutarch (46 – 125 n. Chr.), der dem Orakel zeitweilig als Oberpriester diente, berichtete, dass in der Frühzeit von Delphi fünfzehnjährige Jungfrauen – einfache Mädchen aus dem Volk – als Pythien tätig waren. Deren teils verworrene Aussagen wurden von literaisch versierten Priestern in Verse gesetzt.
Antworten in Trance
Von dem griechischen Philosophen Plutarch stammt die Schilderung einer Weissagungs-Zeremonie aus der Frühzeit des Orakels. Danach nahm die unbekleidete Pythia zunächst ein reinigendes Bad in der Quelle Kastalia, bevor sie heiliges Wasser trank. Zwei Oberpriester begleiteten die junge Frau in den Apollon-Tempel, wo sie ein Zicklein mit kaltem Wasser besprengten. Blieb das Tier ruhig, fiel die Weissagung an diesem Tag aus und der Besucher musste sich einen weiteren Monat gedulden. Zuckte das Tier zusammen, wurde es geschlachtet und verbrannt.
Dann inhalierte die Pythia den Rauch eines Fichtenholzfeuers, in dem zusätzlich Weihrauch, Laudanum, Bilsenkraut und anderes halluzinogenes Räucherwerk verschwelt wurden. Sobald die Frau einen tranceähnlichen Bewusstseinszustand erreicht hatte, wurde sie von den Priestern in das Adyton geleitet, die eigentliche Orakelzelle, und dort auf einen dreibeinigen Hocker gesetzt. In einer langwierigen Zeremonie wurden der Pythia dann die Fragen gestellt, die sie in einer blumigen, gleichnishaften Sprache beantwortete. War die Frau erschöpft, wurde sie durch eine andere abgelöst.

Bohnen und weise Sprüche
Im Tempel Apollons gab es mehrere Orakel-Kategorien: Sie reichten von einem umfangreiche Visions-Orakel, über die Omen-Deutung bis hin zum Binär-Orakel, bei dem ärmere Kunden ihre Fragen so stellen mussten, dass sich die Antwort eindeutig mit einem „Ja!“ oder einem „Nein!“ geben ließ. Die Pythia griff dann lediglich in einen Topf mit weißen und schwarzen Bohnen: Weiß bedeutete „Ja!“, Schwarz „Nein!“
Delphi galt auch als Treffpunkt für die großen Geister der jeweiligen Epochen. In der Vorhalle des Apollon-Tempels, dem Pronaos, waren Lebensweisheiten in großen Lettern aufgeschrieben, wie das berühmte „Erkenne Dich selbst!“ oder „Nichts im Unmaß“! Thales von Milet (624-547 v. Chr.), Philosoph und Astronom, sagte Jahre vorher die Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr. voraus.

Die Quellen versiegen
Fast tausend Jahre lang waltete Pythia auf der Höhe von Delphi. Im Jahr 362 n.Chr. wollte der Arzt Oribasius im Auftrag von Kaiser Julian wissen, wie lange die Orakelstätte in einer sich dem Christentum zuwendenden Welt wohl noch existieren wird. Die Antwort zeugte von prophetischer Gabe: „Künde dem König, das schöngefügte Haus ist gefallen. Apollon besitzt keine Zuflucht mehr, der heilige Lorbeer verwelkt. Seine Quellen schweigen für immer, verstummt ist das Murmeln des Wassers.“ Sechs Jahre nach dieser Auskunft ließ Arkadiens, der Sohn von Kaiser Theodolits, die Orakelstätte zerstören.